Mi., 21.05.2025 , 12:57 Uhr

Was neue Studien über den Einjährigen Beifuß verraten

Sie wächst unscheinbar am Wegesrand, ihre Blätter erinnern an Farn, ihr Duft ist intensiv und kräuterartig – und doch sorgt sie derzeit in der medizinischen Forschung für großes Aufsehen: Artemisia annua, der Einjährige Beifuß. Längst ist die Heilpflanze nicht mehr nur in naturheilkundlichen Kreisen ein Begriff. Weltweit untersuchen Forscher:innen ihr therapeutisches Potenzial – mit Ergebnissen, die selbst Schulmediziner:innen überraschen.

Einst in der traditionellen chinesischen Medizin als Fiebermittel eingesetzt, war sie lange Zeit fast vergessen. Heute steht Artemisia annua im Zentrum einer neuen Welle wissenschaftlicher Studien: als möglicher Bestandteil in der Krebstherapie, als Naturstoff mit antiviraler Wirkung – und neuerdings sogar als Kaffeegetränk mit medizinischem Anspruch.

Was ist dran an der alten Pflanze mit dem neuen Ruf? Und warum sprechen manche Forscher:innen bereits von einem „Game Changer“?

Die aktuelle Studienlage – Artemisia annua im Visier der Krebsforschung

Die vielleicht spannendste Entwicklung rund um Artemisia annua kommt aktuell aus den USA. Am renommierten Markey Cancer Center der University of Kentucky läuft eine klinische Studie, die man vor wenigen Jahren wohl noch als kuriose Randnotiz abgetan hätte: Ein koffeinfreier Kaffee mit einem standardisierten Extrakt aus Artemisia annua wird dort als mögliche Erhaltungstherapie bei Eierstockkrebs untersucht.

Die Idee dahinter: Statt Tabletten oder Infusionen soll ein wohlschmeckendes Getränk therapeutisch wirken. In der Phase-1-Studie wurden Sicherheit und Verträglichkeit geprüft – mit durchweg positiven Ergebnissen. Keine gravierenden Nebenwirkungen, gute Akzeptanz bei den Patientinnen, erste Hinweise auf Stabilität der Krankheit. Inzwischen läuft bereits eine Phase-2-Studie, diesmal zum Einsatz bei Prostatakrebs.

Auch wenn es zu früh ist, um von einem Durchbruch zu sprechen, zeigt das Beispiel, wie ernst die Forschung das Thema mittlerweile nimmt. Noch vor wenigen Jahren hätte man Artemisia annua kaum mit evidenzbasierter Onkologie in Verbindung gebracht – heute taucht die Pflanze in Studienprotokollen führender Krebszentren auf.

Parallel dazu gibt es Hinweise, dass die in der Pflanze enthaltenen Wirkstoffe – allen voran Artemisinin – das Wachstum bestimmter Tumorzellen hemmen können. Vor allem in Kombination mit Eisen scheinen sie zelltoxisch auf Krebszellen zu wirken, während gesundes Gewebe weitgehend verschont bleibt. Zahlreiche präklinische Studien liefern dafür Anhaltspunkte, doch die Übertragbarkeit auf den Menschen ist noch nicht abschließend geklärt.

Die Pflanzenstoffe im Detail – Wirkmechanismen mit Potenzial

Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rund um Artemisia annua steht ein Stoff, der längst Geschichte geschrieben hat: Artemisinin. Dieser sekundäre Pflanzenstoff wurde in den 1970er-Jahren aus den Blättern des Einjährigen Beifußes isoliert – und revolutionierte

kurz darauf die Malariatherapie. Für ihre Entdeckung erhielt die chinesische Pharmakologin Tu Youyou 2015 den Nobelpreis für Medizin. Doch Artemisinin kann offenbar mehr als nur Parasiten bekämpfen.

Die Substanz wirkt auf eine ungewöhnliche Weise: In Kontakt mit Eisenionen – wie sie etwa in Tumorzellen vermehrt vorkommen – entfaltet Artemisinin eine hochreaktive Sauerstoffverbindung, die zellschädigend wirkt. Tumorzellen, die aufgrund ihrer Teilungsrate oft einen erhöhten Eisenstoffwechsel haben, könnten dadurch besonders anfällig sein. Das macht Artemisinin und seine halbsynthetischen Derivate wie Artesunat für die Krebsforschung interessant.

Doch die Pflanze enthält weit mehr als nur diesen einen Wirkstoff. Rund 600 sekundäre Pflanzenstoffe wurden bislang in Artemisia annua identifiziert – darunter Flavonoide, Cumarine und ätherische Öle. Viele davon besitzen nachweislich entzündungshemmende, antioxidative oder antimikrobielle Eigenschaften. Die Forschung geht inzwischen davon aus, dass es weniger der einzelne Stoff ist, der wirkt – sondern vielmehr das Zusammenspiel vieler Substanzen im sogenannten Pflanzenverbund.

Genau hier liegt auch die Herausforderung: Während die Schulmedizin standardisierte Einzelsubstanzen bevorzugt, ist die Wirkung von Pflanzenextrakten schwerer messbar. Wie lässt sich die richtige Dosis bestimmen? Welche Kombinationen sind sinnvoll? Und wie lässt sich das Zusammenspiel der Wirkstoffe kontrollieren, ohne es zu zerstören?

Fragen wie diese beschäftigen derzeit Forschungsgruppen weltweit – mit dem Ziel, die Wirksamkeit von Artemisia annua nicht nur nachzuweisen, sondern auch medizinisch nutzbar zu machen.

Was wir von Artemisia annua noch erwarten können

Noch ist Artemisia annua keine anerkannte Therapieform in der Onkologie, keine Standardempfehlung bei Viruserkrankungen und kein offiziell zugelassenes Heilmittel gegen chronische Entzündungen. Doch wer genau hinsieht, erkennt ein wachsendes Forschungsfeld, das an den Schnittstellen von Pflanzenheilkunde und moderner Medizin arbeitet – und dabei alte Denkmuster hinterfragt.

Die größte Herausforderung: wissenschaftliche Evidenz schaffen, ohne die komplexen Wirkmechanismen der Pflanze zu vereinfachen. Denn gerade das Zusammenspiel der verschiedenen Inhaltsstoffe scheint zentral für ihre Wirkung zu sein. Doch genau das lässt sich schwer in klassischen randomisierten Studienformaten abbilden.

Gleichzeitig entstehen neue Wege jenseits der pharmazeutischen Pipeline: Unternehmen entwickeln funktionelle Produkte wie Kaffeegetränke, Tees oder Nahrungsergänzungsmittel

auf Artemisia-Basis – mit dem Ziel, die Pflanze alltagstauglich zu machen. Auch hier gilt: Ohne klinische Nachweise bleibt der Nutzen im Graubereich zwischen Erfahrung, Hoffnung und Marketing.

Was Artemisia annua dennoch so spannend macht, ist ihr Brückencharakter: Zwischen traditioneller Pflanzenheilkunde und Hightech-Medizin, zwischen östlicher Erfahrung und westlicher Forschung, zwischen pflanzlicher Vielfalt und therapeutischer Präzision.

Ob sie am Ende tatsächlich ein „Game Changer“ wird, wie manche es formulieren, bleibt offen. Aber dass sie unser Verständnis von Naturstoffen, Therapieansätzen und medizinischer Innovation herausfordert – das ist schon jetzt sicher.

(exb)

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